Service Letzte Änderung: 31.01.2023 10:40 Uhr Lesezeit: 3 Minuten

Interview: „Ich habe den Anspruch an mich selbst, dass ich die Ursachen herausfinde.“

Norbert K. Mülleneisen ist Facharzt für Innere Medizin sowie Lungen- und Bronchialheilkunde. Außerdem hat unter anderem eine Weiterbildung zum Allergologen absolviert. 2003 gründete er das Asthma- und Allergiezentrum in Leverkusen. Er ist in mehreren nationalen und internationalen Berufsverbänden in leitenden Funktionen aktiv und engagiert sich als Moderator und Tutor in den Qualitätszirkeln der KV Nordrhein.

 

Im Interview spricht er über den Umgang mit seltenen Erkrankungen, warum selbst erfahrene Ärzte nicht immer sofort auf eine Diagnose kommen und warum ein großes Netzwerk so wichtig ist.

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© privat
Norbert K. Mülleneisen, Facharzt für Lungen- und Bronchialheilkunde, Leverkusen

Herr Mülleneisen, inwiefern haben Sie als Facharzt für Lungen- und Bronchialheilkunde mit Seltenen Erkrankungen zu tun?

Mülleneisen: Es gibt einige Seltene Erkrankungen, die sich auf die Lunge auswirken oder oft in Verbindung mit Allergienen auftreten. Ich behandele zum Beispiel einige Mastozytose-Betroffene . Nachdem sich unter den Betroffenen herumgesprochen hat, dass ich mich in das Thema eingearbeitet habe, kommen immer mehr Patientinnen und Patienten zu mir – zum Teil von weit her. Dazu kommen andere seltene Erkrankungen, von denen es oft nur ein oder zwei Fälle pro Praxis gibt, wenn überhaupt.

Selbst als Facharzt können Sie sich aber nicht mit allen Seltenen Erkrankungen auskennen…

Mülleneisen: Nein, ich kann mich bei Behandlung nicht auf alles spezialisieren. Aber ich denke, dass ich zumindest von allen bekannten Erkrankungen schon mal etwas gehört habe, die meinen im weitesten Sinne meinen Fachbereich betreffen. Wir haben zum Beispiel mit unseren Qualitätszirkel-Mitgliedern im Großraum Köln eine Liste mit allen Selten Erkrankungen im Bereich der Lunge und der Bronchen erstellt. So erhalten die Betroffenen möglichst schnell eine Diagnose und wir können sie untereinander an die jeweiligen Expertinnen und Experten weiterleiten.

Sie erwähnten die Qualitätszirkel. Bitte erläutern Sie kurz, was das ist.

Mülleneisen: Ärztinnen und Ärzte können sich auf freiwilliger Basis zu Qualitätszirkeln treffen. Dort tauschen wir uns zum Beispiel über schwierige Fälle aus, über neue Behandlungsmöglichkeiten, aber auch über unsere eigenen Behandlungsfehler. So lernen wir alle viel voneinander, selbstverständlich auch in Bezug auf Seltene Erkrankungen. Außerdem haben wir ein großes Netzwerk und wissen, wer sich in der Umgebung mit welcher Erkrankung besonders gut auskennt.

Wie kommt es zu den Spezialisierungen?

Mülleneisen:  Das ist oft zufällig. Jemand hat sich zum Beispiel während des Studiums oder in der Promotion schon einmal mit einem Thema intensiv beschäftigt. Oder eine Ärztin oder ein Arzt hat vorher in einer Klinik gearbeitet, in dem bereits mehrere Patientinnen und Patienten mit dem seltenen Krankheitsbild behandelt wurden. Auch bei mir war es zum Beispiel in Sachen Mastozytose eher ein Zufall: Ich kannte die Erkrankung zwar, hatte mich aber nie intensiv eingearbeitet – bis ich die erste Betroffene Patientin hatte. Das hat mich neugierig gemacht. Also habe viel darüber gelesen, Kongresse besucht und bin mit Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland und darüber hinaus in Kontakt. Inzwischen gehöre ich wohl selbst zum Kreis der Spezialisten für diese Erkrankung, dementsprechend wenden sich auch immer mehr Betroffene an mich.

Und Sie möchten auch aktiv dazu beitragen, neue Erkenntnisse über die Erkrankung Mastozytose zu gewinnen…

Mülleneisen: Die Datenlage ist teilweise schwierig, vor allem bei Seltenen Erkrankungen. Um beim Beispiel Mastozytose zu bleiben: Die meisten Betroffenen fallen zunächst durch Hautausschläge auf und gehen entsprechend zum Hautarzt. Einige sind allerdings auch von Allergien, wiederkehrenden Lungenentzündungen oder chronischem Husten betroffen. Diese Symptome stehen aber bisher in keinem Lehrbuch. Ich plane demnächst eine Umfrage unter Betroffen: Wie viele davon leiden unter Lungenerkrankungen? Ist das nur ein kleiner Teil oder doch viel mehr als wir denken? Das ist bisher nirgends erfasst, aber für uns als Behandler eine wichtige Information – auch bei der Diagnose. Für solche Projekte sind gute Kontakte wichtig, zu Kolleginnen und Kollegen ebenso wie zu Betroffenen, etwa durch die Selbsthilfe.

In Deutschland gibt es einige Zentren für Seltene Erkrankungen. Diese sind meist an Unikliniken angegliedert. Welche Rolle spielen die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bei dem Thema?

Mülleneisen: Eine wichtige Rolle! Zum Thema Seltene Erkrankungen gibt es eine große Kompetenz in den Praxen, viele haben bestimmte Schwerpunkte gesetzt. Die großen Zentren leisten sehr gute Arbeit und die Betroffenen sind oft bereit, lange Strecken für die Behandlung auf sich zu nehmen. Dennoch ist eine gute Versorgung in der eigenen Region vor Ort enorm wichtig. Dafür müssen sich alle Beteiligten eng vernetzen, so wie wir im Großraum Köln. Das betrifft übrigens auch die Forschung.

Inwiefern?

Mülleneisen: Bei einem internationalen Kongress habe ich einen Wissenschaftler aus Rostock kennengelernt, der spezifische Zellen der Lungen untersuchte. Er wollte gern Patientinnen und Patienten mit der Diagnose Histosytosis X in die Studie aufnehmen, aber die Krankheit ist so selten, dass er erst einen Betroffenen gefunden hatte. Ich informierte meine Kolleginnen und Kollegen und siehe da – wir konnten zusammen mehr als zehn Betroffene nach Rostock schicken. Das Ergebnis: Die Lehrbücher müssen neu geschrieben werden. Bei der Erkrankung spielen ganz andere Zellen eine Rolle als bisher angenommen.

Die Diagnose von Seltenen Erkrankungen dauert oft lange, teilweise Jahre. Für die Betroffenen ist es meist eine quälende Zeit. Sie haben Symptome, wissen aber nicht, welche Erkrankung sie haben. Wie kommen Sie als Arzt dahinter?

Mülleneisen: Ganz ehrlich: Mich ärgert es, wenn ich keine Diagnose stellen kann. Ich habe den Anspruch an mich selbst, dass ich die Ursachen herausfinde. Wenn das ausnahmeweise nicht funktioniert, beschäftigt mich das. Manchmal gibt es Fälle, die man sich nicht erklären kann. Ein Beispiel: Ich hatte einen Patienten mit COPD. Das ist eine Lungenerkrankung, von der fast ausschließlich starke Raucher betroffen sind. Er hatte aber nur kurze Zeit ein wenig geraucht und längst wieder aufgehört. Daran konnte es nicht liegen. Eine bestimmte Erbkrankheit, die COPD auslösen kann, konnte ich ausschließen. Auch bei seiner Arbeit konnten wir keine Ursache finden, er war nie mit giftigen Dämpfen oder Ähnlichem in Kontakt gekommen. Ich behandelte war die Symptome, aber die Ursache machte mich ratlos. Auch die Qualitätszirkel-Mitglieder hatten leider keine Idee, die Recherchen verliefen im Sande. Es war ein Kongress, der mich auf die richtige Spur brachte: Ein Facharzt berichtete von einem Patienten mit COPD, der in der Kinder- und Jugendzeit viele Infekte hatte aufgrund eines Immundefekts.  Ich fragte meinen Patienten danach und siehe da: Er war als Kind sehr oft krank gewesen. Seine Mutter sagte, er habe jeden Infekt aus dem Kindergarten mitgenommen und viel gehustet. Ein Bluttest ergab: Der Patient hat den Immundefekt. Die Ausprägung ist so leicht, dass er es später im Alltag nicht bemerkte, aber leider COPD als Spätfolge bekam. Die Behandlung ist jetzt daran angepasst und der gesundheitliche Zustand viel stabiler als vorher.

Viele Seltene Erkrankungen sind noch nicht behandelbar. Warum ist die Diagnose trotzdem wichtig?

Mülleneisen: Für viele Seltene Erkrankungen gibt es keine Behandlung, das stimmt. Trotzdem ist es wichtig zu wissen, welche Ursache die Symptome haben. Es hilft, die Betroffenen besser zu verstehen, sie zu vernetzen und – wie am Beispiel des Rostocker Wissenschaftlers – die Forschung voran zu treiben. Außerdem spielt die genaue Diagnose selbstverständlich für viele Behandlungen eine Rolle. Die Ungewissheit ist für die meisten Patientinnen und Patienten belastend. Sie merken, dass etwas nicht stimmt, aber niemand kann es benennen. Mit einer gesicherten Diagnose kann man besser umgehen, auch wenn diese schlimm sein mag. Viele Seltene Erkrankungen sind genetisch bedingt. Dann spielen oft die Fragen eine Rolle: Kann ich das vererben? Haben meine Kinder das auch? Etwa vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Seltenen Erkrankung. Es ist wichtig, am Ball zu bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Thema des Monats: Seltene Erkrankungen

Am 28. Februar ist der "Tag der Seltenen Erkrankungen". Deswegen setzen wir diesen Monat diesen Themenschwerpunkt.

Weitere Informationen finden Sie hier:

Seltene Erkrankungen (Bundesministerium für Gesundheit)
www.bundesgesundheitsministerium.de

Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (Achse)
www.achse-online.de

Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen (Mukoviszidose Institut gGmbH mit Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit)
www.namse.de

Versorgungsatlas für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (Universitätsklinikum Frankfurt)
www.se-atlas.de

Zentrales Informationsportal für Seltene Erkrankungen (Stiftung Gesundheitswissen)
www.portal-se.de

Eva Luise und Horst Köhler Stiftung (für Seltene Erkrankungen)
www.elhks.de

Portal für Seltene Erkrankungen und Orphan Drugs (Französisches Gesundheitsministerium / Europäische Union)
www.orpha.net

 

Haben Sie eine Seltene Erkrankung, suchen Rat und Selbsthilfegruppen? Wenden Sie sich gern an die Kooperationsberatung für Selbsthilfegruppen, Ärzte und Psychotherapeuten (KOSA) der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein.

Kontakt

Anke Petz

Stephanie Theiß

Leitung

Telefon +49 211 5970 8090
Fax +49 211 5970 8082
E-Mail kosa@kvno.de

Bianca Wolter